HimmelsAnker Nr. 125

HimmelsAnker zur Einführung von Pfarrer Till Jonas Weiß

Nicht einfach

Sind sie schon aufgeregt, Herr Pfarrer? Bist du aufgeregt, Till? Das bin ich in der letzten Woche immer mal wieder gefragt worden. Meine Antwort war meist ungefähr so: „Ach nein, nicht so wirklich.“ Da hab ich ganz cool getan. Die Wahrheit ist: Na klar bin ich aufgeregt! Sehr sogar! Ich bin vor jedem Gottesdienst aufgeregt. Aber vor diesem heute ganz besonders. Heute liegen alle Augen auf mir. Und es lagen sogar einige Hände auf mir! Hände von Menschen, die mir einen Segen zugesprochen haben. Und es beginnt ein wichtiger neuer Abschnitt in meinem Leben. Ich habe meine erste Pfarrstelle. Na, wenn das nichts Aufregendes ist, dann weiß ich auch nicht.

Zugegeben: Ganz neu und ganz frisch ist das Ganze jetzt nicht so richtig. Ich bin ja schon seit Mai letzten Jahres offiziell Pfarrer in unserer Gemeinde bochum-nord. Corona hat dazu geführt, dass die Grenze zwischen meinem Probedienst und dem „echten“ Pfarramt ein bisschen verwischt ist. Aber das mit den fließenden Übergängen passiert mir auch nicht zum ersten Mal als Pfarrer. Mein Vikariat habe ich in Langendreer gemacht. Und da hatte ich auch eine gute Zeit!  Das fand nicht nur ich, sondern auch viele in der Gemeinde. Also habe ich meinen Probedienst auch in Langendreer begonnen. Der Abschiedsgottesdienst war dann auch kein richtiger Abschiedsgottesdienst, weil es ja auch keinen klaren Abschnitt gab. Schließlich war ich ja noch in der Gemeinde. Und im Jugendpfarramt. So hieß das Kinder- und Jugendreferat noch bis Ende letzten Jahres. Dann kam ich nach einiger Zeit mit einer halben Stelle in den Bochumer Norden. Da gab es die Gemeinden Gerthe und Hiltrop gerade eben noch. Seit Anfang 2019 sind wir die Gemeinde bochum-nord. Ja, und seit Mai 2021 bin ich tatsächlich gewählter Pfarrer hier. Da ging das eine ins andere über. Das kann schon ein bisschen verwirrend sein. Ich habe auch schon gehört, dass ich seit mindestens 6 Jahren Pfarrer in bochum-nord sei. Das wäre schon eine Leistung, wenn man bedenkt, dass es die Gemeinde bochum-nord erst seit drei einhalb Jahren gibt.

Aber so ist das eben: fließende Übergänge und verwischende Grenzen machen es schwieriger, den Überblick zu behalten. Dann kommt es zu Verwirrung. In der Pandemie haben wir alle das oft genug erleben müssen. Da war oft gar nicht klar, wann welche Verordnung gültig war und wie die Maßnahmen umgesetzt werden sollen. Lockdown bei einer Inzidenz von 50. Dann ging wieder fast alles. Danach wieder fast nichts. Und dann waren die Inzidenz-Zahlen gar nicht mehr ausschlaggebend. Impfen für alle. Impfen nur für Alte. Impfen für Kinder. Impfen für keinen. 2 Impfungen oder 3 Impfungen oder 4 Impfungen. Denselben Impfstoff nochmal? Oder lieber Kreuzimpfungen? 100 Expert*innen und 1000 Meinungen. Das war und ist verwirrend. Und wo ich gerade beim Gendern bin: Sage ich Experten und Expertinnen? Oder lieber Expert*innen? Schreibe ich das mit Sternchen oder mit Schrägstrich oder mit kleinem Semikolon oben? Wie viele Geschlechter gibt es eigentlich? Heißt es LGBTQ? Oder LGBTQIA+? Welche Formen sind auf der Pride-Flagge? Und wie viele Farben? Zählt beim Einkaufen eher die Nährstoffampel? Oder eher die Tierschutz-Ampel? Wen unterstützt die Ampel-Koalition beim Heizen? 300€ für alle? Sind Atomkraft und Kohle wieder umweltfreundlich? Wie teuer wird das Heizen überhaupt? Werden wir weiter auf der Autobahn heizen? Oder doch lieber Tempo-Limit? 120? 130? 9€-Ticket? 29€-Ticket? 49€-Ticket?

Für mich bitte ein Ticket in die Anstalt. Das wird mir alles zu unübersichtlich.

Klare Ansagen. Das wäre doch mal schön. Klare Grenzen. Klare Abschnitte. Dann gibt es auch Ordnung. Und Übersicht. Dann kann man sich auch endlich einfach entscheiden. Irgendeine Werbung sagte mal: Weil einfach einfach einfach ist. 3mal einfach. Ganz schön kompliziert. Ich bin aber doch kein Werbefritze geworden, sondern Pfarrer. Darum kann ich euch und ihnen sagen: Bei Gott ist es einfach! Aber nicht reinen Gewissens. Denn das ist einfach gelogen.

Meine Pfarr-Kolleg*innen und alle, die sich mit Gott und der Bibel beschäftigen, wissen das. Einfach ist das nicht! Allein schon die Trinität. Die Dreieinigkeit. 3 ist 1. Vater, Heilige Geistkraft, Sohn. Klare Grenzen gibt es da nicht. Und ist Gott jetzt göttlich? Oder menschlich? Oder beides? Oder immer abwechselnd oder gleichzeitig? Ist Gott lieb? Oder zieht er auch in den Krieg?

Ist er allmächtig? Oder allwissend? Ist er überhaupt ein Er? Oder auch eine Sie und alles dazwischen? Auf all diese Fragen gibt es viele verschiedene Antworten. In der Theologie und auch in der Bibel. Die Fragen und die Antworten ändern sich auch immer wieder. Weil die Menschen sich ändern, weil die Zeiten sich ändern. Weil das Leben sich ändert. Ich wette, Johannes Romann, der viele Jahre lang hier in Gerthe Pfarrer war, hatte mit ganz anderen Fragen zu tun als ich heute. Und er hat ganz andere Spuren hier hinterlassen als ich sie hier hinterlassen werde. Ich frage mich manchmal: Was würde Johannes wohl davon halten? Und mit dem Gedanken bin ich bestimmt nicht allein. Das ist ja auch kein Wunder. Er hat die Gemeinde Gerthe viele Jahre lang geprägt. Und außerdem ist es ausgerechnet der Jünger Johannes, der vom Altar-Bild runter auf die Kanzel blickt. Hallo Johannes. Wie schneide ich im Vergleich mit Johannes Romann ab? Werde ich schlechter sein? Oder besser?

Und dann fällt mir immer wieder etwas ein. Nämlich die sogenannte Zebedaidenfrage:

„Jesus, können wir rechts und links neben dir sitzen, wenn du in deiner Herrlichkeit regieren wirst?“

Das fragen die Söhne des Zebedäus ihren Lehrer und Meister Jesus. Die Söhne von Zebedäus heißen Jakobus und, na, wer weiß es? Johannes! Ganz genau. Jesus antwortet ihnen dann, dass es im Glauben nicht darum geht, besser zu sein als der oder die andere. Und auch nicht darum, sich über andere zu erheben und auf andere herabzuschauen. Jesus macht es vor: Er ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um anderen zu dienen.

Das ist das, was ich in meinem Amt, in meinem Dienst tun will: Für andere da sein. Und das nicht von oben herab, sondern auf Augenhöhe. Ich will mit Trauernden trauern, mit Feiernden feiern und mit Suchenden suchen. Ich will durchs Leben begleiten. Nicht nur bei Taufe, Konfirmation, Hochzeit und Beerdigung, sondern auch bei all dem, was dazwischen liegt. Ich will mit Rat und Tat zur Seite stehen. Ich will da sein, wenn schwierige Fragen gestellt werden. Und ich will selbst schwierige Fragen stellen.

Was ich nicht will, ist, viel zu einfache Antworten geben. Das passt nämlich nicht zu mir, nicht zu meinem Amt, nicht zur Kirche und nicht zu Gott. Denn all zu einfache Antworten ziehen da Grenzen, wo sie nicht hingehören. Einfache Antworten stempeln ab und stecken in Schubladen. Dann kann man alles leichter verstehen und sich schneller orientieren. Die Schwulen, die Lesben, die Behinderten, die linksversifften Gutmenschen, die Ökos, die Ausländer, die CDU, die Grünen, die FDP, die SPD, die Katholiken, die aus Lobetal, die Gerther, die Hiltroper … Sowas ist schön griffig, man hat direkt Bilder im Kopf und weiß auch genau, wie man sich verhalten soll. Aber man grenzt eben auch ganz schnell Menschen aus. Und das passt für mich nicht zu einer Gemeinde. Das passt nicht zu unserer Gemeinde bochum-nord. Wir haben über 5000 Menschen in unserer Gemeinde. Die gehören alle dazu. In all ihrer Vielfalt und Unterschiedlichkeit. Mit all ihren Potentialen und Problemen. Mit all ihren Überzeugungen und Zweifeln. Für all diese Menschen soll diese Gemeinde bochum-nord da sein. Für all diese Menschen will ich da sein.

Das ist keine leichte Aufgabe. Das ist unübersichtlich. Oft kommt man da mit einfachen Antworten nicht weiter. Da könnte es schnell passieren, dass man wie das berühmte Kaninchen vor der Schlange sitzt. Überfordert, bewegungslos und eingeschüchtert. Aus Angst, etwas falsch zu machen. Voller Furcht vor Fehlern. Und jetzt kommt der Herr Pfarrer endlich zum Bibelvers, den er sich für den Gottesdienst ausgesucht hat: „Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ Gott gibt uns Kraft, Liebe und Besonnenheit. Das ist unser Antrieb. Gott setzt nicht auf Angst. Gott will nicht, dass wir erstarren. Sie will nicht, dass wir aus Angst vor Fehlern stillstehen.

Im Gleichnis vom anvertrauten Geld bringt derjenige am wenigsten Ertrag, der aus Angst vor seinem Herrn handelt. Er vergräbt das Geld, damit es nicht verloren geht. Dann ist es wenigstens sicher. -So kann er es seinem Herrn zurückgeben, wenn er wiederkommt. Dann geht es nicht verloren und ist nicht weniger geworden. Es bleibt unverändert.

Aber dafür ist der Glaube nicht gemacht. Er soll geteilt, weitergegeben und vermehrt werden. Und dabei verändert er sich eben auch. Denn Glauben ist lebendig. Muss lebendig sein. Nur so kann er neue Kraft geben. Glaube ist Gottes Geschenk an uns. Aus Liebe gegeben, um Liebe in die Welt zu bringen. Liebe, digga, Liebe.

Sie, die Liebe ist der Maßstab für alles im Glauben. Ein Glaube, der Menschen ausschließt, sie verurteilt und verletzt, ist nicht der Glaube an unseren Gott. An Gott, der seine Schöpfung liebt. An die heilige Geistkraft, die uns durch Liebe mit Gott und allen Menschen verbindet. An Jesus, Gott als Mensch, der mit uns und mitten unter uns leidet, lebt und liebt. Die Liebe ist der Maßstab. Sie ist die Grenze, die selbst Grenzen überwindet, sogar den Tod. An ihr sollen wir uns ausrichten.

Und das mit Besonnenheit. Angst ist kein guter Ratgeber. Sie führt oft zum Stillstand. Aber genauso wenig hilft blinder Aktionismus weiter. Er kann manchmal mehr zerbrechen als er aufbaut. Und mir ist klar, dass trotz aller Besonnenheit, trotz aller guten Überlegungen und Pläne der Erfolg ausbleiben kann. Irrtümer passieren, Fehler passieren. Lasst es uns trotzdem immer wieder versuchen. Gemeinsam. Lasst uns Mut zum Scheitern haben. Lasst uns als Gemeinde darauf vertrauen, dass Gott uns neuen Antrieb gibt. Lasst uns nicht in Angst erstarren.

Denn Gott hat uns nicht gegeben einen Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.

Sind Sie aufgeregt, Herr Pfarrer? Bist du aufgeregt, Till? Oh ja, das bin ich. Und zwar sehr! Denn die Zukunft wird spannend. Es gibt viel zu tun. Wer wäre da nicht aufgeregt? Aber ich bin zuversichtlich. Denn meine Zeit steht in Gottes Händen.

Amen.